Ein Buch zu rezensieren, das als Antwort auf ein anderes geschrieben wurde, welches ich nicht gelesen habe, kann mindestens einem Autor kaum gerecht werden. »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« von Michael Winterhoff, einem Kinder- und Jugendpsychiater, wurde seit Erscheinen im Januar 2008 laut Verlags-Homepage (Stand 8.3.09) »bald 400.000 mal verkauft«.
Ich gehöre nicht zu den fast 400.000 Kunden, sein Titel entging der Aufmerksamkeit meiner für neue Gedanken aufgeschlossenen Seele. Tyrannen? Da gab es vor vielen Jahren »Der kleine Tyrann« von Jirina Prekop, dem ich mich lesend widmete. Manche der von ihr beschriebenen Aspekte und Zusammenhänge konnte ich damals nachvollziehen, doch blieb mir ein merkwürdiges Gefühl tief sitzender Abneigung in Erinnerung, das sich beim Lesen weiterer Bücher derselben Autorin bestätigte.
Natürlich kenne ich Kinder, die ihre Eltern und andere Erwachsene tyrannisieren, mehr noch sind mir Menschen erwachsenen Alters begegnet, die sich gegenseitig tyrannisieren bzw. tyrannisieren lassen, und dies auf so geschickte Weise, dass niemand auf die Idee käme, ihnen ein Buch mit dem Titel »Der große Tyrann« in die Hand zu drücken in der Hoffnung, sie mögen darin sich selbst erkennen.
Während solche Tyrannenbücher aus dem Bereich der pädagogischen Ratgeberliteratur bis heute als soundsovielte Neuauflage auf dem Markt erhältlich sind, fand ein Werk, das die Problematik an der Wurzel zu packen versucht, keinen nachhaltigen Absatz: »Muttersöhne«. Darin widmet sich der Autor Volker Elis Pilgrim berühmten Tyrannen der Weltgeschichte wie Napoleon und Adolf Hitler, aber auch Bhagwan und Jesus, um anhand ihrer Mutterbeziehungen aufzuzeigen, wie seelische Vereinnahmung, getarnt als Fürsorge und Liebe, die Söhne um ihr eigenes Selbst brachte.
Kinder- und Familientherapeut Wolfgang Bergmann versucht in seinem Buch »Warum unsere Kinder ein Glück sind« eine Antwort auf »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« von Michael Winterhoff. Doch scheint mir sein berechtigtes Aufbegehren ebenso aufgewärmt wie die aus alten Kisten hervorgekramte Tyrannenbehandlungsanleitung. Beim Lesen seiner mir überwiegend sympathischen Ausführungen kam ich häufig ins Stocken mit der Frage, ob diese Diskussion nicht weitab von jenen geführt wird, die es angeht, während es meist dieselben sind, welche gar eine innige Freude daran finden, sich denkend und schreibend, für- und widersprechend über dieses, jenes, solches auszulassen. Mehr noch: Laufen die Autoren gar vor sich selbst davon? Und der Erkenntnis, dass beide Parteien am selben Strang ziehen? Um dasselbe Problem kreisend, es von dieser bzw. der anderen Seite zu bestärken, statt wirklich zu lösen, während sie hin- und zurückziehen im Licht der Öffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit sie glauben lassen könnte, mehr (Winterhoff) – oder weniger (Bergmann) – im Recht zu sein?
Internet-Foren sind gut besucht, wenn gestritten wird. Das ist auf dem Markt der greifbaren Medien kaum anders. Auseinandersetzungen ziehen Massen an, sehen sie in diesen verzweifelten Kämpfen sich selbst gespiegelt, um auf diese Weise Halt zu finden – vorübergehend. Halt im Außen! Und den hat wiederum nötig, wem es an innerem Halt fehlt.
Nicht nur Kinder spüren, ob eine Person meint, was sie sagt bzw. schreibt, sie den Halt, von dem sie erzählt, selbst lebt, auch Erwachsene verfügen über diese natürliche Fähigkeit, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen.
Ein Mensch, der Disziplin fordert, sei es mit lautem Brüllen, einem coolen Nein oder in versteinert ritterlicher Körperhaltung, während die Stimme seiner Seele in den Tiefen eines dunklen Bunkers Schutz sucht, mag seinem Gegenüber bzw. »Untergebenen« für den ersten Moment einen gewaltigen Schrecken einjagen. Der so Gedemütigte wird dem wahren Kern seines Gebieters früher oder später auf den Nerv fühlen, strebt doch jede Seele danach, leben und sich entfalten zu dürfen. Bei aller sichtbaren Destruktivität solcher Beziehungen wirkt der Motor des Seelischen, Lebendigen dem Hass entgegen. Entsprechend gefordert fühlt sich der Autor Wolfgang Bergmann, dem »hartherzigen« Imponiergehabe der Disziplinierungspädagogen mit weicher, von liebevollen (aber auch wütenden) Gefühlen motivierter Zugewandtheit zu begegnen. Doch ist diese Ausgleichshandlung zum Scheitern verurteilt, solange es weiterhin darum geht, das Glück der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen, statt sich selbst!
Ja, ich stöhne bereits, es hängt mir zu allen Poren heraus, dieses ständige Bemühen um Kinder, Kinder, Kinder, Kinder, was die Eltern alles tun und lassen sollten, könnten, dürften oder auch nicht, ob das nun Kunst sei, Erziehung oder beides, spielt keine entscheidende Rolle. Die Eltern waren und bleiben selbst Kinder, es ist an ihnen, sich um sich selbst zu bemühen, nicht nur, indem sie mal auf eine Party gehen oder zum Fußballturnier am Wochenende.
Mit netten Worten kommt man da nicht weiter, das ist schön, gemütlich und bequem, denn wer möchte nicht immer nur geliebt werden? Unangenehm wird es, sich von etwas zu verabschieden, Neues und damit Fremdes zu wagen, was Angst macht. Dass hier die einen auf den Tisch hauen, knallharte Disziplin fordern und damit dem aktuellen Zeitgeist entgegenkommen, fällt nicht vom Himmel! Wenn ich auch das Strammstehen hinter der Tür und andere Strafen für bescheuert bzw. einfach lächerlich halte, der Impuls, welcher dazu verführt, solche Erziehungsmaßnahmen zumindest zu fordern, ist mir vertraut! Auch ich spüre die Tendenz zu solch rigiden Verhaltensweisen in mir aufkeimen, wenn ich zuvor voller Mitgefühl in Verbindung mit allen möglichen kreativen Denkstrategien an meine Grenzen stieß (und das kommt immer wieder vor! In dieser Hinsicht oute ich mich, ganz unpopulär, als Versagerin). Genau diese Wut, so scheint mir, drückt sich in dem spontanen Jubel der vielen Käufer des o. g. Buches aus.
Doch schaue man genauer hin. So gierig die heißen Semmeln aus ihren Tüten gezogen und reingeschnappt wird, so rasch haben sie ihren Geschmack während der Gemüter-Abkühlung verloren … bei Ebay werden viele der 400.000 Exemplare von Privat zum Verkauf geboten. So klug sind die Menschen naturgemäß eben doch, dass sie den Disziplinarmaßnahmen zum Trotz ihrem ureigenen Gespür folgen. Bestseller sind auch nur Bücher aus Papier, auf das der Mensch allzu gerne druckt, was er sich wünscht, bevor er es zu realisieren vermag. Ich bleibe bei meinem waldschonenden Motto im Sinne des Papierschutzes: Lasst Taten Worte folgen – und nicht umgekehrt, dann können wir die zum Schreiben und Lesen in Übermaßen verschwendete Zeit nutzen, um zu leben – (und – auch Kinder – leben zu lassen), während die Bäume uns Luft zum Atmen schenken, statt massengemordet die Bücher-Regale unserer WOHNungen zu verstopfen.
Jutta Riedel-Henck, 8. März 2009
Herbert Renz-Polster
Kinder verstehen Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt 512 Seiten, Hardcover € (D) 19,95 München: Kösel, 2009 ISBN 978-3-466-30824-8
Mehr als ein Kilogramm bringt diese im Juli 2009 erschienene 512 Seiten starke Hardcover-Ausgabe auf die Waage: Zu schwer für eine Büchersendung oder den »Maxibrief«-Tarif der deutschen Post, bleibt im Päckchen noch etwas Platz für das Gewicht der ungeschriebenen oder vom Lektorat gekürzten Zeilen, die Herbert Renz-Polster während seiner weit verzweigten Gedankenwege durch den Kopf gegangen sein mögen.
»Dieses Buch verarbeitet Fakten aus Dutzenden von Büchern und Hunderten von wissenschaftlichen Arbeiten – und soll sich trotzdem wie eine packende Geschichte über die Entwicklung unserer Kinder lesen« (S. 16), schreibt der Autor zu Beginn in seiner »kleine[n] Bedienungsanleitung« und verweist auf seine das Buch begleitende Website www.kinder-verstehen.de, die der Ergänzung, Vertiefung und Weiterverfolgung aktueller Diskussionen »rund um das Thema Entwicklung aus Sicht der Evolution« (S. 17) dienen soll.
Lebendig, flüssig, schwungvoll wirkt der Schreibstil dieser auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Reise durch die Zeit zurück in die Vergangenheit auf der Suche nach den Wurzeln kindlicher Verhaltensweisen, für die es dem modernen Menschen an Verständnis fehlt.
»Kinder verhalten sich oft nicht so, wie es ihre Eltern von ihnen erwarten und sich wünschen: Babys weinen ohne Angabe von Gründen, sie haben wochenlang Koliken, und sie wollen partout nicht im eigenen Bettchen schlafen. Kleinkinder essen kein Gemüse, dafür Süßigkeiten ohne Grenzen, sie schlafen schlecht ein und wachen nachts regelmäßig auf. Sie bekommen aus heiterem Himmel Wutanfälle und lassen sich beim Sauberwerden endlos Zeit. Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen […] . Diesem Buch liegt eine andere Sichtweise zugrunde. Statt nach dem zu suchen, was unseren Kindern fehlt, fragt es nach den Vorteilen, die ein bestimmtes Verhalten bietet. […] Also: Was hat das Kind davon, kein Gemüse zu essen? Was hat es davon, den Teller nicht leer zu löffeln? Was hat es vom Trotzen, was von dem Geschrei, wenn es alleine einschlafen soll? Kurz, dieses Buch nimmt an, dass Kinder gute Gründe haben, wenn sie ihre Eltern vor Rätsel stellen.« (S. 11)
Solchen und weiteren Fragen spürt der Kinderarzt mit Hilfe eines reichhaltigen Repertoires wissenschaftlicher Untersuchungen und daraus resultierender Schlussfolgerungen auf den Grund, um den Leser an seinen vielfältigen Gedankenverknüpfungen teilhaben zu lassen.
So humorvoll und originell die Sprache einem freundschaftlichen Wir-Gefühl die Türen öffnet, das auch polemischen Äußerungen ihre Schärfe nimmt, verleitet der Schreibstil zu einem schnelleren Lesen, als der Inhalt es zulässt – will man ihn wirklich verstehen.
Zu gefällig, so schien es mir im Verlauf der Lektüre, serviert der Autor seine Lösungen, kaum aufgeworfen, werden Fragestellungen zu rhetorischen Kunstgriffen, die dem Leser eigenständiges Denken und Kombinieren zu verleiden drohen.
Ein Weniger-ist-Mehr hätte dem Buch und seinem sinnvollen Inhalt größeres Gewicht verliehen, häufig fehlte mir eine Beschränkung auf das Wesentliche, fühlte ich mich durch die Fülle von beispielhaften Verweisen überflutet.
So neu ist die vom Autor eingenommene Perspektive – zumindest in belesenen Kreisen – eigentlich nicht, und damit weniger ausschweifend erklärungsbedürftig. Sind es nicht selten die Intellektuellen, welche sich durch ein Übermaß an Bildung von ihren primitiven Wurzeln entfernen, um sich ihrer tierischen Vorfahren zu schämen wie des bei vorgehaltener Hand unterdrückten Niesens während eines Konzert-Besuchs?
Um den heißen Brei gedacht, geredet, hin-, vor- und zurückdiskutiert, gezweifelt und getanzt haben wir mehr als genug. Verstehen (und lieben!) wir das Kind (und den Affen!) in uns, verstehen (und lieben!) wir auch unsere Kinder.
»Wenn wir Eltern genauso offen und lernbereit sind« [wie unsere Kinder], schließt der Autor, »werden wir unseren Kindern auf der Brücke begegnen können.« (S. 481)
Ich gehe einen entscheidenden Schritt weiter und behaupte, dass wir Eltern verpflichtet sind, offener und lernbereiter zu sein als unsere Kinder es durch ihr Verhalten (erst) herausfordern, um sie aus ihrer Zwangslage zu erlösen, unbeliebter Wecker des im Erwachsenen schlafenden Kindes (bzw. Affen) zu sein.
Jutta Riedel-Henck, 13. September 2009
Lesetipp zum Thema:
Peter F. Weber
Der domestizierte Affe Die Evolution des menschlichen Gehirns
248 S., Hardcover Düsseldorf u. Zürich: Walter, 2005. ISBN 3-530-42189-8
So reißerisch der Titel lautet: Eine Anleitung zum Bombenlegen hat der Autor Roland Seidl nicht geschrieben. Vielmehr setzt sich der 1952 geborene Lehrer für Mathematik und Physik mit der aktuellen Bildungsmisere auseinander, orientiert an Zeitungsartikeln, Büchern und Filmen zum Thema Schule. Anders als sein Autorenkollege Michael Winterhoff, aus dessen Buch »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« er wohlwollend zitiert, um es im Anhang unter dem Titel »Das sollten Sie auch lesen!« als Leseempfehlung aufzuführen, bietet Seidl eine Vielzahl konstruktiver Ansätze für »Wege aus der Bildungskrise«, ohne arrogant zu wirken oder einseitige Schuldzuweisungen zwischen den Zeilen zu verstecken. Ob er das Buch von Michael Winterhoff gründlich gelesen und durchgängig verstanden hat, bezweifle ich. Vielmehr wirken die ein und anderen von Winterhoff formulierten »Eisbergspitzen« aus ihrem Zusammenhang gerissen wie Schlagzeilen, die ihm gerade zum rechten Zeitpunkt in sein Konzept passten, um austauschbar zu sein in einer Art Karteikasten mit gesammelten Zitaten und Meldungen aus den Medien, orientiert an eigenen Beobachtungen und Erlebnissen aus der Unterrichts-Praxis.
»Wenn ich Anekdoten, Episoden, Auffälligkeiten, Verstörungen zitiere und seziere, trete ich nicht als Besserwisser, sondern als Fragender, genauer als ein Querdenker und –fragender auf, der sich in seiner Kritik um Differenzierung bemüht. Meine Sichtweisen mögen nicht immer widerspruchsfrei mit absoluter Statistik unterlegt erscheinen, aber sie verweisen auf Probleme und entlarven Plattitüden« (S. 14).
Während Winterhoffs Ausführungen eher unglücklich, missverständlich und teilweise verwirrend zu einer Unmenge an Fehlauslegungen und einem Mehr an Fragen verführen, als sich konstruktive Antworten daraus ableiten ließen, bietet Seidl nachvollziehbare Gegenüberstellungen und sachliche Grundlagen zum Weiterdenken und Prüfen. Wenn es beispielsweise um die Ungerechtigkeit gängiger Notengebung geht, schreibt Seidl mit Mut zur Eindeutigkeit unter der Überschrift »Noten taugen für den Müll«:
»Ein unsägliches Thema: Noten! Für die Lehrer, die im Halbjahresrhythmus Hunderte von Noten geben müssen. Und Noten, die gerecht sein sollen. Sie sind es aber nicht, selbst wenn Lehrer perfekt benoten würden. Neben der grundsätzlichen Problematik, mithilfe einer Zahl zu versuchen, Qualität zu quantifizieren, liegt die Ungerechtigkeit im Notensystem selbst.« (S. 33)
Unmöglich, mit wenigen Zeilen eine Zusammenfassung des Buches zu formulieren, die dem Inhalt auch nur annähernd gerecht würde. Zu vielschichtig, auch chaotisch, durchfressen und verknotet offenbart sich unser Bildungssystem, das sich bei genauerem Hinschauen als völlig unsystematisch entpuppt. Das Gebäude hat weder Hand noch Fuß, geschweige denn eine sichere Statik, im Grunde ist es längst zerfallen wie ein in Patchworktechnik zusammengeflicktes Zettel-Haus, dessen Wirtschaftlichkeit mehr dem Schein als dem Sein Rechnung trägt.
So marode das System und durchlöchert die Hosentaschen von Bund, Ländern und Kommunen, bleibt zu befürchten, was mir mein unbestechlicher Computer ohne Rücksicht auf Realitätsverlust nach jedem Zusammenbruch gnadenlos vor Augen führt:
»[Betriebs-]System wird nach schwerwiegendem Fehler wieder ausgeführt«.
»Reißt die Schulen ein!« von Roland Seidl sollte Pflichtlektüre für alle Bildungspolitiker sein, während ich seine förderliche Einschätzung von Winterhoffs »Tyrannen« nicht zu teilen vermag.